China - Gesellschaft in Bewegung

»Bereits heute gebe es in China jährlich 30 000 bis 40 000 spontane Demonstrationen, die sich gegen Entlassungen, aber auch gegen Umweltverschmutzung richten«. (aus einem Zeitungsbericht über die großen Probleme, die Volkswagen neuerdings in China hat). Die in diesem Jahr bisher spektakulärste war die Vertreibung der Polizei aus dem Dorf Huaxi (gehört zur Stadt Dongyang, Provinz Zhejiang) im April. Hier war 2001 ein Industriepark eröffnet worden. Schnell siedelten sich Chemiefirmen an - wie sich später herausstellen sollte, vor allem solche, die von ihren früheren Standorten vertrieben worden waren. Die Einwohner des Dorfes versuchten es vergeblich mit legalen Protestformen. Als dann noch eine Plastikverwertungsfabrik kam, war das Maß voll. Die Situation soll unerträglich gewesen sein: Gestank, alles Wasser verseucht, das Gemüse (Hauptanbauprodukt der Bauern) wuchs kaum noch und war unverkäuflich. Also blockierten sie die Zufahrt zum Industriegelände mit Bambushütten, die von den Alten der Frauenliga besetzt wurden. dass sich gerade die Alten immer wieder an die Spitze setzen, beruht auf der Vermutung, dass die Polizei es nicht wagt, alte Frauen anzugreifen.

Frühmorgens am 10. April griff die Staatsmacht dann doch an. 3000 Polizisten wurden mit Bussen herangebracht und fingen an, die Bambushütten niederzureißen. Die Frauenwache zündete Feuerwerkskörper und schnell waren bis zu 20 000 Leute da. Es ging das Gerücht, zwei der Frauen seien schwer verletzt oder gar tot (eine Frau war tatsächlich überfahren worden, aber nicht lebensgefährlich verletzt). Daraufhin griffen die Leute die Bullen an - die antworteten erst mit Tränengas, versuchten dann aber, sich zurückzuziehen. Es gibt Vermutungen, dass viele der einfachen Polizisten überhaupt keine Lust hatten, sich mit den Leuten anzulegen und den Offizieren die Sache aus den Händen glitt. Sie flüchteten zuerst in die Busse, die wurden aber solange geschüttelt, bis die Insassen wieder raus waren und in eine Schule flüchteten. Auch die wurde angegriffen, und schließlich suchte die Polizeitruppe in heller Auflösung das Weite. 50 wurden zum Teil schwer verletzt. Manche Polizisten zogen ihre Uniform aus, um unerkannt verschwinden zu können.

Die offiziellen Medien nahmen erst sehr viel später Stellung, als nichts mehr zu verheimlichen war. Die Informationen hatten sich übers Internet verbreitet, obwohl die ersten Nachrichten recht schnell von Zensoren gelöscht worden waren. Das Dorf wurde zur Touristenattraktion, Zigtausende aus der Umgebung wollten den Ort der Schlacht besichtigen. Die Behörden reagieren bis heute zurückhaltend. Zwar meinen die Leute aus dem Dorf, dass hunderte Zivilbullen da wären, um die RädelsführerInnen rauszufinden, weshalb ihr Komitee geheim ist. Andererseits erklärten die Behörden, dass neun der schlimmsten Fabriken geschlossen bleiben sollen. Bis heute gibt es noch keine Festnahmen. Die Medien sprechen von »wohlmeinenden aber naiven Leuten, die von Provokateuren aufgehetzt wurden«.

Das ist nicht das einzige Beispiel von Bauernprotesten. Es geht dabei um Landenteignungen, Korruption, Umweltzerstörung. Ebenfalls im April wurde die Batteriefabrik B.B.Battery in der Nähe von Kanton von einer aufgebrachten Menge gestürmt und weitgehend zerstört. Die Bewohner einer kleinen Vorstadt von Beijing demonstrierten im Juni wochenlang gegen die Enteignung ihres Landes für eine Olympia-Einrichtung.

Es gibt eine tiefe Kluft zwischen dem Regime und großen Teilen der Landbevölkerung, aber nicht nur die Bauern machen Ärger. Es mehren sich Streiks und andere Aktionen gegen die miserablen Arbeits- und Lebensbedingungen in den Fabriken. Wobei es in diesem Jahr zu immer mehr großen Streiks mit tausenden von ArbeiterInnen kommt. So streikten im Februar in Shenzhen 1000 ArbeiterInnen einer Druckerei gegen lange Arbeitszeiten und schlechtes Essen in der Kantine. In Foshan (Kanton) streikten 5000 ArbeiterInnen einer Schmuckfabrik, weil die Firma versuchte, mit Tricks die Erkrankung einiger KollegInnen an Staublunge zu vertuschen. Erkrankte ArbeiterInnen waren einfach entlassen worden. Im Verlauf des Streiks kam es zu Straßenschlachten mit der Polizei, wobei viele verletzt wurden.

Im Juni streikten 4000 TextilarbeiterInnen für höhere Löhne, ebenfalls in der Nähe von Kanton. Den Angriff von Sicherheitsleuten konnten sie noch zurückschlagen; von Riot-Polizei wurde dann aber Tränengas eingesetzt. 24 wurden verhaftet. Auffallend an dieser Auseinandersetzung war, dass eine offizielle Zeitung von sich aus darüber berichtete, ein seltener Vorgang im Land der Zensur.

Der Streik bei Uniden Electronic in Shenzhen im April ist besonders bemerkenswert, auch wenn er am Ende vorerst eine Niederlage für die ArbeiterInnen gebracht hat. 10 000 Menschen produzieren schnurlose Telefone u.a. für Wal-Mart. Es hatte schon in der Vergangenheit immer wieder kurze Streiks gegeben. Und es hatte in der Fabrik seit Monaten die Diskussion um die Bildung einer eigenen Gewerkschaft gegeben. Deshalb legten spontan 3000 die Arbeit nieder, als die Firma einen Kollegen entließ, der für sein Eintreten für Organisationsfreiheit bekannt war. In kurzer Zeit schlossen sich fast alle (bis auf 600) dem Streik an. Die Forderungen bezogen sich auch auf Arbeitszeit und Lohn, auf die sanitären Einrichtungen und das Verhalten der Vorgesetzten - aber im Zentrum stand, dass 10 000 für eine eigene Gewerkschaft streiken - das ist neu in China. Entsprechend entschlossen reagierten diesmal die Behörden, die in anderen Fällen oft zu vermitteln versuchen. Die ArbeiterInnen wurden im Werksgelände eingeschlossen, ein Versuch, rauszukommen, wurde mit Gewalt verhindert.

Der Streik dauerte eine Woche, in der es gelang, die ArbeiterInnen einzuschüchtern. Einige der StreikführerInnen verschwanden einfach, man weiß nicht, ob sie verhaftet worden sind. Viele wurden entlassen.

Ende Juni meldete Bloomberg, dass Uniden wieder weg will. Erst vor zwei Jahren war eine Fabrik in Laguna, Philippinen, geschlossen und die Produktion nach Shenzhen verlagert worden, weil die Arbeitskosten dort niedriger seien. Jetzt will Uniden ganz schnell ein Drittel der Produktion des Werkes Shenzhen nach Laguna zurückverlegen. Schon im August soll das Werk Laguna wieder produzieren.

Auch andere gesellschaftliche Gruppen werden aufmüpfiger. Mitte April demonstrierten 1500 ehemalige Offiziere vor dem Büro der Politischen Abteilung mit einem zweitägigen Sitzstreik für höhere Pensionen. Auch das hat es - soweit bekannt - noch nicht gegeben. Wobei Beobachter nicht nur die Tatsache hervorheben, dass überhaupt ehemalige Stützen des Regimes demonstrieren, sondern auch auf den hohen Grad an Organisation hinweisen - sie waren aus 20 Provinzen zusammen gekommen.

An den Unis gab es seit langem wieder zaghafte Proteste, als die Uni-BBS und Mailserver im Zuge der verschärften Internetzensur für Außenstehende geschlossen wurden. Microsoft hat sich mit seinem neuen China-Portal den Zensurbemühungen der Behörden angeschlossen; Wörter wie »Demokratie«, »Freiheit« oder »Demonstration« werden automatisch zurückgewiesen, wenn jemand sie in einen Blog-Eintrag schreiben will. Die verzweifelten Versuche des Regimes, das Internet zu kontrollieren, scheinen allerdings nicht sehr erfolgreich. Nach ein paar Tagen kursierten schon die ersten Vorschläge, wie man Microsofts Zensurrobot überlisten kann. Und kurz darauf wurde ausgerechnet die Webseite der Sicherheitsfirma gehackt, die im Auftrag der Beijinger Polizei 4000 Leute einstellen will, die bei Serviceprovidern und Internetcafés das Netz überwachen sollen.

aus: Wildcat 74, Sommer 2005

(Die Bilder wurden einen Tag "nach der Schlacht" in Huaxi gemacht und in verschiedenen Blogs veröffentlicht)


Zur Startseite, zum Inhaltsverzeichnis, zu Asien Aktuell

Eine Webseite von WELT IN UMWÄLZUNG Mannheim-Ludwigshafen

Ende 6/2005